Reinhild Gerum

Ich konnte nicht mehr reden vor Angst

Beitrag zur Ausstellung Zeitstörung im Städtischen Museum Gorzow, Polen 2007

Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist weltweit verbreitet.

Welche Möglichkeiten bleiben einer Frau, die nach einer Vergewaltigung ein Kind erwartet? Wie kann eine Frau wieder in die Rolle der Agierenden treten? Wie reagieren auf ein Kind wider den eigenen Willen - abtreiben, sich selbst umbringen oder das Kind zur Welt bringen? Seelisch und körperlich verletzt kann keine Frau nach einer Vergewaltigung einfach weiterleben wie bisher. Scham und Angst werden zu ständigen Begleitern; sie muss sich schützen.

Eine glänzende Folie umhüllt ein Geflecht aus Draht, in welchem eine große beschriebene Milchglasscherbe liegt. In den drei Geschichten von Vergewaltigungen, die zu lesen sind, wählen die Frauen jeweils eine der drei Möglichkeiten.

Um überleben zu können, verschließen Frauen ihre Schrecknisse in der Tiefe ihres Seins und können jahrzehntelang völlig unauffällig leben, obgleich ein solches Erlebnis prägt und niemals aufhört zu wirken. R.G.

Ich konnte nicht mehr reden vor Angst
Installation
2007
   
Reinhild Gerum

Eins
Nachts waren wir unterwegs, tagsüber ruhten wir uns aus. Wir versuchten uns zu verstecken, im Wald, am besten in irgendeiner Hütte. Es war ja Winter und ziemlich kalt. Als wir im Wald dann ein richtiges kleines Steinhaus fanden waren wir froh und beschlossen wenigstens einen Tag zu bleiben, weil uns allen dreien die Füße wehtaten. Wir heizten nicht ein, damit wir uns nicht verrieten, und verkrochen uns in ein Erdloch unter der Küche, wie die Leute früher Kartoffelkeller im Haus hatten. Ich schlief sofort ein. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, ob es Tag oder Nacht war, aber ich erwachte durch einen Knall, dann hörte ich Stimmen, die nicht in meiner Sprache redeten. Es war stockdunkel in diesem Loch und ich hörte nur das aufgeregte Atmen meiner Tante und meiner Cousine. Die Geräusche waren direkt über uns. Da musste meine Tante niesen. Die Geräusche, die Stimmen wurden unerträglich laut, von der Klappe her kam Licht, dann waren die Männer schon unten, schauten uns kaum an, packten mich und zerrten mich nach oben. Sie warfen mich auf den Küchenherd, rissen an meiner Kleidung herum und dann stieß einer auch schon mit seinem, mit seinem, mit... zu und dann der nächste und dann der dritte. Und während ich meine Tante schreien hörte, warf mich einer hinaus vor die Tür und zielte auf mich. Sie trieben uns in den Wald und wir wussten nicht, wo wir waren, und ich hatte furchtbare Angst, ich konnte gar nicht reden vor Angst. Ich merkte dann irgendwann, dass mit mir etwas anders war: ich schwitzte und die Brust war so empfindlich, mir war schlecht und außerdem war meine Blutung nicht gekommen. Immer, wenn mich dieses Entsetzen packte, lief ich besonders schnell und wollte nicht daran denken. Trotz meiner Erschöpfung, wir schliefen immer nur ganz kurz, war ich plötzlich hellwach vor Gewissheit. Die anderen schliefen, ich lief weg, fand einen Prügel und stieß mich immer wieder in den Bauch - ganz lange. Es tat so weh und ich biss die Zähne aufeinander, bis ich nicht mehr konnte. Die anderen fanden mich, halfen mir auf und trieben mich zur Eile an und ich stolperte mit. Ich hatte Schmerzen, das Blut lief mir zwischen den Beinen herunter, alles in mir und an mir war Schmerz.



Zwei
Ich konnte gar nicht reden vor Angst. Ich merkte dann irgendwann, dass mit mir etwas anders war: ich schwitzte und die Brust war empfindlich, mir war schlecht und außerdem war meine Blutung nicht gekommen. Immer wenn mich dieses Entsetzen packte, lief ich besonders schnell und wollte nicht mehr daran denken. Trotz meiner Erschöpfung, wir schliefen immer nur ganz kurz, war ich plötzlich hellwach vor Gewissheit. Die anderen schliefen, ich erhob mich und lief auf einem kleinen See zu, hinein ins Wasser. Meine vielen Kleider, die ich anhatte zogen mich herunter und da war ich ganz selig. Mein Verlobter winkte mir zu und ich wollte zu ihm hin, da spürte ich um mich das eiskalte Wasser, das mich hinderte, mich schnell auf ihn zuzu bewegen. Da packte mich ein Todesentsetzen. Er aber hatte diese Mühe nicht; er kam her zu mir, legte den Arm um mich und führte mich dann auf eine Wiese, mitten im Dunkeln war es da ganz hell. Mein Körper war ganz leicht und die Grashalme kitzelten meine Fußsohlen ganz angenehm. So selig wollte ich bleiben.

 

Reinhild Gerum ©2012