Reinhild Gerum

Es ist nur eine Haaresbreite

Beitrag zur Ausstellung arsenal des alltäglichen in der Toskanischen Säulenhalle, Augsburg 2002

Massive Gewaltdelikte kommen häufig vor. Im Leben eines jeden Menschen kann ein Ereignis auftauchen, das die Normen des bisherigen Verhaltens außer Kraft setzt.
Das Leben ist begleitet von der Ungewissheit, ob und wann dieser Augenblick eintritt.

Wie kommt diese Grenzüberschreitung zu Stande? Was passiert in dem Augenblick, in welchem die Lebensperspektiven von Täter und Opfer zerstört werden? Wie geht das Leben nachher weiter?

In einem begehbaren Kubus steckt in einem Geflecht aus Draht ein Messer, das zugleich fest verbunden ist mit diesem Draht. An den Plastikwänden dieses Kubus sind innen Protokolle zu lesen, die nach ausführlichen Gesprächen entstanden sind; außen sind Zeitungsartikel zu lesen, die ebenfalls von solchen Vorkommnissen berichten.

Der Ausstellungsbesucher kann eine distanzierte Position einnehmen und von außen in den Kubus schauen; begibt er sich aber in den Kubus hinein, ist die distanzierte Position dahin, im Gegenteil: er betrachtet das Ganze aus der Perspektive der Beteiligten, er wechselt die Seite. R.G.

Es ist nur eine Haaresbreite
Installation
2002
   
Reinhild Gerum

Protokoll 1
Es ist nur eine Haaresbreite, ja, der Schritt ist so dünn wie ein Haar. Ich liebe meine Frau bis heute; und es tut mir bis heute leid, dass sie nicht mehr da ist. Ich lebe bis heute noch nicht richtig, es tut mir heute noch weh, dass sie nicht mehr da ist. Und ich weine --- sie fehlt mir. Aber es ist passiert, sie war schwer krank und ich habe meine Kontrolle verloren, wo ich doch geglaubt habe, ich bin stabil. Die Jahre mit ihr waren ja die schönsten meines ganzen Lebens; die letzten 2 Jahre dann nicht mehr. Die waren dann eine Dauerkrise; die waren unvernünftig.

Es gab viel Streit, sie hat mich geschlagen, in die Zunge gebissen und das Kind nicht mehr versorgt - nichts mehr zum Essen gegeben.
Aber ich habe sie geliebt und ich wollte ihr helfen. Dann nahm ich eine eigene Wohnung und wollte den Sohn holen. Und sie sagte: “Der Sohn ist bei einem Schulfreund.” Aber am nächsten Tag erfuhr ich dann, dass er im Heim ist. Mein Sohn sagte: “Papa, die Mama ist so krank.” Da hätte ich mir sagen sollen: “Wolfgang, jetzt musst du gehen und Hilfe holen.”
Alles, was ich bin, wurde ich durch sie. Ich war nichts. Mein Vater hat immer gesagt, ich wär eh vertauscht --- hat immer mein Gesicht auf den Tisch geknallt. Mein Bruder war auch auf der Sonderschule, aber geschlagen wurde er nie. Schon als junger Mensch wollte ich sterben, mit 11---12. Immer allein, habe ich immer Liebe und Geborgenheit gesucht. Später habe ich mir die dann nehmen wollen: Vergewaltigung, Suff. Bis die Susi kam, sie, die Frau Doktor der Mathematik. Ich lernte sie in der Psychiatrie kennen. Sie war bald wieder gesund, ich musste länger bleiben, war ja dort eingesperrt: forensische Abteilung. Die Frau hat mich immer besucht, konntest die Uhr danach stellen. Ich schaffte dann vieles: Hauptschulabschluss, --- damals hab ich dann sehr an mir gearbeitet. Ich hatte jetzt eine Frau und später dann eine Familie. Als unser Sohn geboren wurde, war mein Glück dann perfekt. Und dann, nach zehn Jahren, hat sie angefangen zu trinken, nahm Heroin --- war krank. Ich sagte mir: “Sie hat immer zu dir gehalten, du musst jetzt stark sein, jetzt musst Du ihr helfen.” Ich wollte nicht, dass sie in eine Anstalt kommt.

Ich ging abends zu ihr, ich hatte einen Schlüssel. Ich war lange allein, sie kam ganz spät. Sie sagte: “Schön, dass du da bist.” Sie machte etwas zu essen. Dann sahen wir fern. Es lief Colombo. Sie schimpfte: “Du willst ja immer nur reinspritzen, such dir doch `ne Geile”. Ich ging. Sie lief nach, riss meine Brille runter. Wir gingen rauf. Nach einer halben Stunde gings wieder los. Sie nahm das Küchenmesser und sagte: “Ich stech dich ab”. Da nahm ich das Messer und stach zu, sie fiel mir in die Arme und sagte: “Tiger, jetzt hab ich dich wieder”. Ich lief rum durch die Stadt, wollte von der Brücke springen, lief rum wie ein Roboter. Ging dann wieder zurück und legte sie aufs Bett. Angst, Wut, Enttäuschung, Hilflosigkeit --- als sie da auf mich zukam mit dem Messer. Das war eine Minute, so schnell ging das und so schnell war sie auch tot.

Ich hätte eben früher gehen müssen, nicht mehr in ihre Wohnung gehen sollen. Aber mir war egal, was dabei herauskommt, ich wollte nicht mehr ohne sie leben. Aber sie wollte nicht mehr --- immer mit dem Kranksein leben. Aber ich wollte es schaffen --- ich wollte es beweisen. Dann stand sie vor mir.



Protokoll 2
Ich bin im katholischen Internat aufgewachsen; ich habe ja diese Adoptionsverfahren hinter mir, jedes Mal Probewohnen, Sich-Kennenlernen. Ungefähr ein Dutzend waren es, aber es passte nie. Das Abitur habe ich doch nicht gemacht. Meine Mutter ist gestorben, da war ich fünf. Sie hatte sieben Kinder. Sie wurden tot gefunden, sie und ihr Liebhaber, ein Unfall; oder auch nicht - während eines Schäferstündchens. Wir Kinder wurden getrennt, kamen zu Verwandten, Pflegeeltern, nach Paris oder nach Amerika oder Oberbayern.

Ich bin ja begabt und war gut in der Schule. Ich konnte meine Aufgaben gut meistern. Meine Frau ist sehr sympathisch. Wir bauten ein Haus, aber als das Nest fertig war, war es zu eng. Ich war das nicht gewohnt, ich hatte ja so etwas noch nie erlebt, all diese Beziehungen, zur Verwandtschaft, zu den Schwiegereltern usw. Es war mir immer möglich mein Leben zu meistern. Ich steuerte dann mehr auf Karriere - war selten zu Hause, trennte mich.

Ich habe dann diesen Mann kennengelernt, wir waren wie Steckdose und Stecker - er gab mir alles. Ich verlor meine Persönlichkeit. Ich wollte aussteigen, schon ein Jahr vor der Tat, es ging nicht.

4 Wochen vorher wollte ich mich umbringen. Ich wusste, dass etwas im Busch ist. Ich habe die Katastrophe gerochen, ich hab gewusst, ich geh vor die Hunde - nur nicht wann und wie.

Ich wusste, ich geh drauf. Ich war enttäuscht von mir, von allem. Ich wollte meine Ruhe.

Ich habe ihn wiedergetroffen, wir haben geheult und gesoffen, zu Hause noch mal - ich kann mich nicht gut erinnern; ich habe übertötet, ich habe viel öfter zugestochen als nötig: über 25 Mal.

Durch diese Tat habe ich mein Leben verwirkt. Ich habe kein Recht mehr aufs Leben. Ich stehe auf mit der Tat und gehe mit ihr ins Bett, es wird immer schwieriger. Wenn man durchs eigene Ich gelaufen ist und bei sich angekommen ist, gibt es keine Wiedergutmachung. Ich will auch keine Wiedereingliederung. Ich habe noch einiges zu tun - warum ist es so gekommen? Aber bei dieser Frage geht es nicht um die Wiedereingliederung.

 

Reinhild Gerum ©2012