Reinhild Gerum

Sehnsüchtig denke ich an Dich

Beitrag zur Ausstellung FREILUFT,
in der historischen Lungenheilstätte
Haus Altmühltal in Pappenheim, 2010


Eingesperrt oder von vertrauten Menschen getrennt zu sein, führt oft zu seelischer Not, ob im Gefängnis oder im Sanatorium. Für die Betroffenen bleibt nur noch Briefe zu schreiben. Doch viele Briefe werden nicht abgeschickt, kommen nie an.

Das Klo ist offensichtlich seit Jahren unbenutzt. Rosa und hellblaue Papiere sind in eine Kloschüssel gestopft und liegen daneben. Es sind Briefe mit Geschichten, die von der Verzweiflung erzählen, die unter solchen Lebensbedingungen entsteht.

Briefe von weg- oder eingeschlossenen Menschen, meist an nahe Stehende, die Eltern, einen Freund oder an die Verlobte gerichtet, sind zwar immer der Versuch mit der "Welt draußen" Kontakt zu halten, sind aber auch immer ein Versuch, sich selbst Mut zu machen, um diesen nicht zu verlieren. Gleichzeitig sind sie Zeugnisse der Ahnung, dass alle diese Anstrengung vergeblich ist. R.G.

sehnsüchtig denke ich an dich
Installation - Detail
2011
   
Reinhild Gerum

Geliebte Anna,
ich sitze hier am Fenster und schaue in den Garten, aber meine Gedanken drängen zu Dir, sind ganz bei Dir. Viele Male am Tag stelle ich mir vor, was Du gerade machst, und versuche ganz bei Dir zu sein. Ich fühle mich in diesem Deinem roten Sessel sitzen und beobachte alles ganz genau. Doch dann schweifen meine Gedanken wieder zurück bis zu dem Tag, als ich zum letzten Mal dort saß, und wie die Ereignisse sich überschlugen, als die Ärzte feststellten, dass ich sehr krank bin. Immer überfällt mich dann dieser Schwall von Erinnerungen. Ich sehe dieses Taxi, in welches ich einsteigen musste, da meine Verabredung mit meinem Geschäftspartner sonst nicht zustande gekommen wäre. Der Fahrer war fiebrig und hustete unaufhörlich. Ein ander Mal sehe ich eine Frau vor mir, die im Bus neben mir saß und mir den Spaß am Lesen verdarb mit ihrer Husterei. Aber auch auf dieser Reise in den Osten hatte ich eine Begegnung mit einer Frau, die mir wohl von Anfang an wie eine Bazillenschleuder erschien. Ich saß an diesem Tisch in einem Kaffeehaus und war so müde. Obwohl ich es als unangenehm empfand, mit ihr an einem Tisch zu sitzen, stand ich nicht auf. Ich war so müde, so hundemüde, und hatte einfach nicht die Kraft. Hundertmal denke ich täglich immer wieder durch, wo ich angesteckt wurde, wo ich mich angesteckt habe; es ist unsinnig, dieses Denken, aber es ist wie ein Karussell, das sich dreht, und ich kann nicht aussteigen. Ich sehne mich so nach Dir, nach dem roten Sessel, dort bei Dir sein zu dürfen, ganz still und versteckt. Einfach wieder im Leben zu sein und nicht abgetrennt davon, abgesondert von allem. Verzeihe bitte, liebe Anna, diesen Brief, den ich in ähnlicher Weise schon so oft geschrieben habe, aber ich kann diese Gedanken nicht bezähmen. Ich hoffe, dass sich mein Zustand bald bessert und wir uns dann auch wiedersehen. Ich werde dann im Frühling, wenn Du mich besuchst, sicher mit Dir spazieren gehen und wir werden viele heitere Gedanken haben. Sehnsüchtig warte ich auf eine Nachricht von Dir und kann mich kaum beruhigen, nur wenn es mir gelingt, mich in Deinem roten Sessel sitzend zu fühlen, bin ich ruhig.

 

Reinhild Gerum ©2012