Reinhild Gerum

Plötzlich wurden mir die Knie weich

Installation zur Ausstellung im Städtischen Museum Zirndorf 2009

Leben ist immer Veränderung. Bei einer Flucht ist die Veränderung jedoch radikal. Seit die Menschheit existiert gibt es Menschen, die vor Krieg, Hunger oder Verfolgung usw. fliehen. Der Schritt in die ungewisse Zukunft ist geprägt von großer Hoffnung, aber auch von vielen Ängsten.

In einem Boot, welches in einem Drahtgewirr feststeckt, liegen Papiere mit dramatischen Geschichten von Menschen, die auf unterschiedlichste Weise geflohen sind. Boote waren in vielen Kulturen Sinnbild eines gefährlichen Übergangs und stehen auch heute für den risikoreichen Aufbruch, um ein neues Leben an einem anderen Ort zu beginnen.

Jeder kann vor der Entscheidung stehen: fahren oder bleiben, das Boot besteigen oder am Ufer verharren. Das Leben ist voller Unsicherheiten. Der Widerspruch zwischen der Lebenssituation der Flüchtlinge und der geordneten bürgerlichen Lebenswelt des Betrachters ist nur scheinbar, denn jeder kann schnell auf die andere Seite geraten. R.G.

Plötzlich wurden mir die Knie weich
Installation, Zirndorf
2009
  
Reinhild Gerum

Ludmilla
Wir waren Gutsbesitzer. Bis zuletzt konnten wir nicht glauben, dass wir unser Land verlassen müssten. Deshalb warteten wir so damit, eine Entscheidung zu treffen. Wir wollten die Realität nicht sehen und - meine Kleine war erst sechs Wochen alt. Wir mussten nicht zu Fuß fliehen, wir nahmen das Auto. Natürlich war das gefährlich; ein Auto war eine Zielscheibe, aber was war ungefährlich in dieser Zeit. Wir hatten noch gehortetes Benzin; wir fuhren nachts und ohne Licht.
Wir waren schon ein paar Nächte unterwegs. Ich musste dringend, bat unseren alten polnischen Knecht, der fuhr, anzuhalten. Hinten lag neben mir meine Kleine und schlief. Das Auto bremste; alle, auch ich sprangen heraus und meine Kleine schrie sofort ganz fürchterlich. “Lass die Kleine da,” schrie meine Mutter, “mach schnell.” Ich packte mein Kind aber und lief nur ein paar Meter vom Auto weg. Ich musste so dringend. Das Donnern des Tieffliegers war ohrenbetäubend. Ich hörte die Gewehrsalve, ein Schreien; kurz war unser Auto von einem Lichtkegel erfasst. Dann war alles still. Irgendwann hörte ich meinen Namen, ich spürte jetzt auch die Kälte und ich tastete mich zur Straße. Tomaz sagte: “Einsteigen!” Tomaz ließ den Motor an und fuhr gleich weiter. Komischerweise funktionierte das Auto noch. Die Fenster waren kaputt. Ich saß jetzt vorne. Ich hörte nichts außer dem Motorgeräusch des Autos. Ich drückte mein Kind an mich. Erst am Morgen sah ich, dass hinten alle tot waren. Hinten war das Auto durchlöchert, die Rücksitzbank war zerfetzt. Meine Mutter, meine Schwestern hatten nur schnell, zu schnell gepinkelt, saßen schon im Auto, als der Flieger kam. Sie wollten nicht warten mit dem Einsteigen und setzten sich nach hinten, zum ersten Mal saß auch meine Mutter im Fond, sonst war immer ich mit der Kleinen dort. Tomaz, ja der musste auch scheißen.



Mahito
Die Wüste hatten wir hinter uns. Das waren anstrengende, fürchterliche Tage. Jetzt waren wir an der Küste und warteten auf das Kommando zur Überfahrt mit einem Boot. Wir sollten uns verstecken, unauffällig sein, damit niemand Verdacht schöpft. Nachts kam dann ein Laster, wir mussten ganz schnell einsteigen und kurze Zeit später waren wir in der Nähe des Strand. Dort lag ein großes Schlauchboot und die fremden Männer trieben uns. Das Boot war schon ziemlich voll. Plötzlich war das Vertrauen in meinen Plan weg und ich sehnte mich in mein Dorf zurück. Das Meer roch stark, es war der Geruch des Todes. Das Meer war Blut, überall war Blut. Meine Mutter lag am Boden unserer Hütte, ihre Gedärme quollen aus ihrem Bauch und lagen neben ihr; ein Ungeborenes inmitten darin. Ich war ganz stumm, die Schreie kamen einfach nicht aus meinem Mund heraus. Einer von den Milizen rief: “Wir bringen sie alle um, es darf keinen Zeugen geben.” Ein Auto war zu hören und der Schrei: “Weg hier, weg hier!” Dann war ich allein in meinem zufälligem Versteck hinter einigen Säcken mit Getreide. Fliegen kreisten um die Gedärme meiner Mutter und ich wunderte mich, wie klein das Ungeborene war. Da stieß mich jemand von hinten und ich war im Boot. Nochmal sah ich meine Mutter und all das Blut, und dann dachte ich an das viele Geld, das alle für mich bezahlt hatten. Es gab kein Zurück, das Meer war ruhig.



Odysseus
Wir waren gefangen in der Höhle, Polyphem verspeiste einen nach dem anderen von uns und es musste etwas geschehen, wollten wir nicht alle verderben. Da hatte ich die Idee, dass ich den Riesen betrunken machen und dann ihm sein einziges Auge ausstechen würde. Mein Plan gelang und er schrie erbärmlich, war rasend vor Wut. Jetzt band ich meine Kameraden an den Bäuchen der Schafe fest, die er jeden Tag aus der Höhle hinaus auf die Weide trieb. Ich selbst wollte mich am Fell eines besonders starken Widders bäuchlings verstecken. Ich beobachtete den Riesen, ob er etwas merkte. Mit seiner großen Hand strich er über den Rücken eines jeden Tieres, ob nicht einer von uns darauf säße. Ich wagte nicht an seine Wut zu denken, wenn er uns entdecken würde. Nach und nach zogen die Tiere mit meinen Gefährten an mir vorbei. Jetzt musste ich unter den Widder kriechen und mich im Fell festklammern. “Nur nicht zaudern, mein Held”, raunte mir Athenae zu. Meine Gefährten passierten den Ausgang der Höhle, ich tat es ihnen nach, und Sekunden später war auch ich unter freiem Himmel. Schnell liefen wir hinab zum Strand zur Argos. Wir legten ab, da hörten wir ihn schreien. Mit der Kraft seiner entfesselten Wut schleuderte er uns einen riesigen Fels hinterher. Das Meer kochte über, aber bald war es wieder glatt und alle Angst legte sich.



Olga
Polen war geteilt; in einen deutsch und einen russisch besetzten Teil. Das war 1939 und es gab täglich Übergriffe von den Nazis an uns, an den Polen. Ich hatte solche Angst vor den Nazis, ich wollte weg. Mit gerade 16 Jahren war ich noch ein Kind, aber ich lief weg, weg von meiner Familie, von meinem Zuhause, hatte nichts dabei, weder Geld, noch Kleider, noch Seife. Ich lief zu den Russen. Es gelang mir tatsächlich die doppelt und schwer bewachte Grenze - die Grenze war westlich von den Nazis bewacht und von der östlichen Seite von den Russen - zu überqueren. Ich hatte Glück. Ich wurde von den Russen freundlich aufgenommen; ich lernte Schneiderin, lernte russisch und hatte zu essen. Sie sagten, ich wäre eine Heldin, weil ich das alles ganz alleine entschieden hatte und es geschafft hatte, über die Grenze zu kommen, ins Land der Zukunft, ins kommunistische Russland. Aber Russin wollte ich keine werden, sie fragten mich nämlich, ob ich die russische Staatsbürgerschaft annehmen wolle. Sie, die Russen wollten das. Nach dem Überfall der Nazis auf Russland wurde ich dann geholt und kam ins Straflager nach Sibirien, in den Norden des Oblasts Nowosibirsk. Es gibt dort Omsk und Tomsk und den großen Fluss Ob. Das weiß ich alles von der Fahrt ins Straflager, wo ich 13 Monate blieb. Es war dort eisig kalt und es gab fast nichts zu essen - in der Frühe eine Griessuppe, mittags eine Griessuppe und abends eine Griessuppe. Wir mussten eine Eisenbahnstrecke schneefrei halten. Es waren außer mir noch tausend Leute dort, Männer und Frauen. Die Männer mussten Holz fällen, natürlich ohne Motorsäge, und die Frauen Schnee schippen. Es wurde immer schlimmer. Oft dachte ich an Flucht, aber mir war klar, Flucht war gleich Tod bei dieser Kälte. Als der Krieg zu Ende ging und immer mehr Kriegsgefangene kamen, wurde wir Frauen wieder Richtung Westen gebracht und entlassen. Ich ging nach Polen zurück in meine Stadt. Die Nazis waren weg, aber meine Familie auch. Niemanden von meiner Familie konnte ich in der Stadt finden, und meine Familie war groß. Keine Eltern oder Geschwister, aber auch keine Onkel und Tanten. Alle seien sie geholt worden, sagten die Nachbarn, die mich gar nicht wieder erkannten. Ich war wieder ganz allein.



Sofie
Wir kamen an einem Bauernhof vorbei und beschlossen dort zu übernachten. Die Bauern waren erst kurz zuvor gegangen, der Ofen war noch warm. Wir hatten lange gewartet, dachten, uns passiert schon nichts, mein Großvater war einer der wenigen Bauern, der in der Kommunistischen Partei Mitglied war. Großmutter glaubte fest, wir müssten nicht gehen, und trug das Parteibuch immer bei sich. Die Männer waren alle im Feld, eingezogen worden, auch Großvater. Mein Rucksack stand schon lange bereit. Ich war erst 18 Jahre, aber machte mir meinen eigenen Reim, und als ich sagte, dass ich gehen würde, wollten gleich alle mit, außer der Großmutter, die aber bald klein beigab. Wir kamen langsam vorwärts, Urgroßmutter mussten wir im Handwagen ziehen; sie konnte nichts mehr sehen und kaum noch laufen. Der Bauernhof kam nach vier Tagen Fußmarsch gerade recht. Vorsichtshalber übernachteten wir aber im Heu, wir hofften, dass uns dann die Soldaten nicht finden würden. Aber es half nichts, unsere kleine Lisa musste niesen und wir waren dran, alle auf einmal und jede von jedem, gleich mehrmals. Alles tat weh, dann spürte ich gar nichts mehr. Aber nach ein paar Tagen spürte ich, dass mit mir irgendetwas anders war: ich war schwanger. Die Frauen haben sich so geschämt, eine lief vor meinen Augen ins Wasser, sie schrie und schrie, bis sie ertrank. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Ganz schnell ging das. In der Morgendämmerung stand ich auf; die ganze Nacht hatte ich geträumt von den Männern und lief ans Ufer, niemand war in der Nähe, keiner hätte mich retten können, es war ja so kalt, es hätte bestimmt auch nicht lange gedauert, aber ich zögerte im letzten Augenblick: Plötzlich wurden mir die Knie weich. Meine Verzweiflung wurde von einer Welle von Wut beiseite geschwemmt. Die Sonne brach durch die Wolken und ich wunderte mich über diese Helligkeit. Irgendwie kehrte in diesem Moment die Kraft zurück, hatte ich die tiefe Empfindung, dass Schönheit in allen Lebenssituationen möglich ist. Jetzt ist meine Tochter auch schon bald 60; wir leben in einem Haus; verstehen uns gut. Als sie noch klein war, war es schon schwierig, ihr zu erklären, wo und wer ihr Vater ist, aber sie wuchs so prächtig heran und war so ein selbstbewusstes und gescheites Mädchen. Ich habe sie geboren; sie ist meine Tochter. Sie kam aus mir heraus, die Hebamme hat sie mir entgegengehalten und ich habe sie an mich gedrückt, und dann waren wir zu zweit. Später sagten dann manche Leute, die Frauen hätten sich hingegeben, aber das stimmt überhaupt nicht. Es gibt immer dumme Leute.

 



Reinhild Gerum ©2012