Logos und Chaos
oder
Ruhezustand durch Spannung
Auszüge aus einem Gespräch zwischen Reinhild Gerum, Erika Wäcker-Babnik und Stefan Graupner am 23. November 2011 im Atelier der Künstlerin
Erika Wäcker-Babnik und Stefan Graupner:
In Ihren Ausstellungen und vor allem in Ihrem
Katalog finden sich auffallend viele Texte. Was
sind das für Texte und was haben sie mit den
Installationen zu tun?
Reinhild Gerum:
Die Texte rühren alle aus meinem Leben. Ich habe diese
Geschichten alle einmal gehört. Selten kombiniere ich
diese auch mit Notizen aus der Zeitung, in der man solche
Geschichten ebenfalls lesen kann. Diese Geschichten
kommen aus meinem Freundeskreis, aus meinem
weiteren Bekanntenkreis, teilweise vom Hörensagen,
und sie kommen sehr stark aus der Psychiatrie, wo
ich seit über zwanzig Jahren bildnerisch mit Klienten
arbeite. Hier kann ich oft etwas aus dem Leben meiner
Klienten hören. Das sind zum Teil sehr anrührende, mich
anrührende Geschichten.
Wenn sie mich interessieren, dann protokolliere ich sie
für mich. Es handelt sich um eine Sammlung, die ich
zunächst absichtslos angefangen habe, eine Sammlung
von Geschichten, die ich nicht vergessen möchte; immer
dann, wenn mich etwas so berührt, dass ich es nicht
vergessen möchte, dass ich den Eindruck habe, das muss
noch einmal irgendwie in Erscheinung treten. Das, was
ich gehört habe, muss noch einmal verwandelt werden zu
etwas anderem.
Was interessiert Sie an den Geschichten ganz speziell?
Die Menschen erleben Dinge schicksalhaft, sind in diese
Vorgänge ihres Lebens hineingeworfen: durch politische
Umstände, durch persönliche Umstände wie Krankheit,
Verlust eines Partners, aber auch durch Verfolgung und
politische Veränderungen. Diesen Menschen wollte
ich eine Art Denkmal setzen. Es ist für jeden Betrachter
nützlich sich vor Augen zu führen, was diese Menschen
erlebt haben und was diese Geschichten ihnen selber
sagen. Es ist nützlich sich zu überlegen, wie wohlbehütet
man lebt und wie schnell sich das ändern kann. Alle diese
Geschichten beinhalten diese Botschaft, sich das zu
überlegen.
Wenn man einen Text liest, ist er rein assoziativ.
Nach welchen Kriterien wählen Sie Ihre Geschichten aus und
nach welchen Kriterien werden sie ins Bildnerische
übersetzt?
Für all diese Installationen ist jeweils das Thema für mich
sehr wichtig. Ob es das Thema Flucht oder das Thema
Vergewaltigung ist, ich habe mir vorgenommen, diese
Themen zu bearbeiten. Ich suche dann danach, was dafür
die richtigen Geschichten sind, sowohl im Kopf als auch in
meinem Archiv. Beim Schiff war es so: Ich hatte zwar schon
einen großen Fundus an Fluchtgeschichten, aber ich wollte
einfach noch mehr afrikanische Fluchtgeschichten. Weil sie
aktuell sind. Deshalb habe ich ganz systematisch versucht
mit Schwarzafrikanern ins Gespräch zu kommen, z.B. im
Erstaufnahmelager in Zirndorf. Nach einer belanglosen
Plauderei fragte ich: Wie sind Sie denn hergekommen?
Was war da los? Manchmal kam ich dadurch noch an sehr
anrührende und aufrührende Geschichten. Das Thema
nimmt den Ausgang immer aus dem Fundus. Aber ich gehe
frei um mit den Geschichten, d.h. ich kürze, ich collagiere,
und aus den Geschichten werden Texte.
Und die Umsetzung ins Bildnerische?
Die Form muss immer so sein, dass auf keinen Fall
Sentimentalität entsteht. Ich glaube, dass bei der äußeren
Form eine große Strenge notwendig ist, weil alleine die
Geschichten schon so heftig sind...
...Sie haben mal notiert, die Formen dürften nicht
melodramatisch sein...
Genau. Sie dürfen nicht melodramatisch sein. Aber die
Geschichten sind heftig. Und das kann ich konterkarieren,
indem ich eine sehr strenge Form habe. Das heißt eben
auch wenige Materialien. Irgendwann hat sich diese
Vorliebe für Draht und Plastik ergeben. Bis jetzt konnte ich
bei den Installationen mit der Kombination Plastikfolie/
Metall sehr viel machen. Das heißt nicht, dass ich künftig
alle Installationen mit diesen Materialien bestreiten
werde. Aber das war bis heute nach reiflicher Prüfung
immer wieder eine gute Ausgangslage.
Was assoziieren Sie mit diesen Materialien?
Metall ist ein uraltes Material der Menschheit, Plastik ist
unsere Zeit. Die Themen, die ich anschneide, kommen in
der Gestalt von Menschen, die entweder noch leben oder
vor kurzem gestorben sind. Nur selten nehme ich solche
sagenhaften Gestalten mit hinein, wie den Erzengel oder
den Odysseus... .
...man könnte mit dem Plastik die Zeltplanen der
Flüchtlinge assoziieren...
...ja, die Menschen, die sich jetzt auf den Weg machen,
die müssen mit den Bruchstellen unserer Zeit umgehen.
Plastikboote, Plastikplanen, Plastikflaschen. Das bindet
diese Themen an unsere Zeit. Andererseits sind es
archaische, uralte Menschheitsthemen. Geflohen sind die
Menschen schon immer. Jeder Krieg verursacht Flucht. Das
Vergewaltigungsthema ist auch ein Menschheitsthema,
wie auch die Unterdrückung der Frau.
Kommen wir noch einmal zurück auf das Bildnerische...
Zu einem gewissen Zeitpunkt wollte ich diese Geschichten
in meine künstlerische Arbeit mit hereinnehmen. Es ist
tatsächlich so, dass ich diese nicht gegenständliche Art,
wie ich die Kunst betrieben habe, auffüllen wollte mit
dem Thema, das ich als Künstlerin immer hatte: Logos
und Chaos. Die Struktur, das Geordnete und das sich frei
Entfaltende und eben auch gefährlich Chaotische. Das
wollte ich immer zusammenbringen in meiner Kunst, in
meinen Zeichnungen. Dieses Thema hat sich plötzlich
aufgefüllt mit Geschichten. Ich wollte die Geschichten in
die bildnerische Arbeit hereinbringen und habe daraus
einen für mich völlig neuen Typus von Arbeit entwickelt:
die Installationen. Bei den Installationen sind ein
bildnerisches Mittel immer Texte.
Woran lässt sich, wie Sie es selbst formulieren, "dieses
Ringen um ein gespanntes Verhältnis von Chaos
und Logos" in Ihren Zeichnungen und Installationen
festmachen?
Das gespannte Verhältnis von Logos und Chaos verstehe
ich so, dass es nicht darum gehen kann, so etwas wie
Harmonie, eine befriedete Ausgeglichenheit zu erzeugen.
Ich gehe eher davon aus, dass Logos und Chaos in einem
starken Gegensatz zueinander stehen und dadurch
eine große Spannung zwischen diesen beiden Polen
herrscht. Ich sehe das nicht als Ruhezustand, sondern
als Ruhezustand durch die Spannung. Der Einzelne steht
sozusagen in der Mitte. An beiden Armen ziehen diese
Pole. Das hat sich für mich in den frühen 90er Jahren als
Vorstellung entwickelt. Je besser man dem Druck oder Zug von
beiden Seiten standhalten kann, nicht auf die eine
oder andere Seite ausweicht, umso tatkräftiger kann man
sein, umso mehr kann man sich ins Leben einbringen,
umso mehr kann man auch die Fülle des Lebens erleben.
Das ist schwer. Diese Gespanntheit muss man aushalten.
So empfinde ich auch mein eigenes Leben. Die Spannung
ist interessant, aufregend, aber auch anstrengend. In der
Psychiatrie ist es tatsächlich so, dass die Patienten immer
in eine Ecke driften. Das ist der Ort, wo alle Menschen
nicht in der Mitte stehen, sondern hin- und hergezogen
werden.
Nochmals: Wo lässt sich dieses Spannungsverhältnis,
wo lässt sich diese Mitte zwischen Logos und Chaos, in
der Sie sich selbst sehen, festmachen?
Ich sehe die Installationen in der Spannung. Sie sollen
schön im Sinne von anziehend aussehen, mit dem
glitzernden Draht, diesen ansprechenden Formen, wo ich
mich beim Material sehr beschränke, wo ich um eine wohl
geordnete Form ringe. In dem Augenblick, wo man sich mit
den Texten beschäftigt, wird man sehr weit hinabgeführt in
schwierige Erlebnisse und schwere Verhältnisse.
Das wäre dann mehr die chaotische Komponente?
Ja. Diese Geschichten sind eigentlich alles Niederschriften
von chaotischen Erlebnissen oder einem chaotischen
Leben. Bei der "Verpackung", wie ich diese Geschichten
präsentiere, ist es mir ganz wichtig, dass der Betrachter
nicht mit brutalen, schockierenden Bildern konfrontiert
wird, einen das nicht schon chaotisch anspringt. Er soll
nicht als Schaulustiger herankommen.
Der Betrachter soll also von einer Form gelockt werden,
die ihn zu interessanten Gedanken inspiriert. Dazu ist für
mich auch der glitzernde Draht wichtig. Der Betrachter
kommt hin und nimmt dann anderes wahr. Das irritiert
und fordert ihn zum Nachdenken heraus.
Das heißt, die Ästhetik spielt für Sie erst einmal eine
Rolle? Das Visuelle, die Ästhetik, wenn Sie den Begriff
"schön" verwenden.
Nur wenn es mir als bildende Künstlerin gelingt, eine
anziehende und präzise Form für meine Inhalte zu
entwickeln, mache ich meine Arbeit. Das ist für mich die
Definition des bildenden Künstlers, dass es eine präzise
Form gibt, die nicht anders sein dürfte für das Werk.
Obwohl der Inhalt eigentlich den Gegenpol darstellt.
Der ist ganz schrecklich für den Betrachter.
Ja. Aber ich glaube, dass die Form, die ich dafür wähle,
anziehend sein muss, sonst schaut niemand das Werk an.
Präzise deshalb, weil jedes Kunstwerk, das nicht präzise
ist, eine Zumutung darstellt.
Am Anfang des Katalogs steht eine Zeichnung.
In welchem Zusammenhang ist diese Zeichnung wichtig
für die abgebildeten Installationen?
Ich möchte zunächst einmal zeigen, dass ich eine
Zeichnerin war und immer noch bin. Der Stift, die
zeichnerischen Mittel sind mir einfach sehr vertraut und
sind immer erstes Ausdrucksmittel, auch wenn ich für die
Installation eine Skizze mache. In den frühen Zeichnungen
sehe ich die erste Bewältigung des Themas Logos und
Chaos. Ich habe damals die Idee entwickelt, eine Struktur
zu schaffen. Das waren Fliesenwände, auf die ich das
Papier gelegt und darauf dann frei entfaltend gezeichnet
habe. Diese Idee, dass die sich frei entfaltende Zeichnung
und die Struktur − weil es ja Frottagetechnik ist − simultan
entstehen, hat mich damals so begeistert, dass ich Tag
und Nacht zeichnete. Diese Idee also, dass Logos und
Chaos wirklich zusammen entstehen, war für mich ein
Glücksgefühl. In dieser Zeit habe ich eine zeichnerische
Handschrift entwickelt, aus dem Körper heraus, aus dem
Arm, sehr gestisch. Wenn ich mir anschaue, wie ich dieses
"Gewirke" mit Draht in die Luft zeichne, habe ich schon
den Eindruck, dass es kein so großer Unterschied ist,
ob man eine Linie auf das Papier zeichnet oder mit dem
Draht in der Luft Verschlingungen produziert.
Die Zeichnung am Anfang des Katalogs ist ein Ausschnitt
aus einer Zeichnung. Dieser Ausschnitt hat dann eine
Nähe zur Verwendung des Drahtes in der Installation,
und zeigt, wie Sie mit dem Draht zeichnerisch umgehen?
Ja. Dass ich dann in den Raum gegangen bin, hat auch
etwas damit zu tun, dass sich die Zeichnung auffüllt mit
Geschichten von Menschen. Ich hatte während meines
Akademiestudiums mit Bildhauerei eigentlich keine
Berührungspunkte, außer im Aufbaustudium Architektur
und in der Zusammenarbeit mit einer Bildhauerklasse.
Richtig los ging es mit den Installationen zu einem späteren
Zeitpunkt. Ich denke mir, das ist auch eine Konsequenz,
nämlich das Anfüllen einer ungegenständlichen, man kann sagen abstrakten Idee oder Vorstellung mit Leben, mit
den Geschichten von Menschen. Das musste dann in den
Raum. Obgleich die Geschichten geschrieben sind, sind
sie präsenter im Raum, in einem Schiff, in einem Kubus.
Lassen Sie uns nochmals zum Betrachter kommen.
Wenn ich die Texte lese und mir die Installationen
anschaue, dann stellt sich für mich die Frage: Wie
möchte Reinhild Gerum, dass ich reagiere? Gibt es
Ihrerseits eine Erwartungshaltung an den Betrachter?
Ich wünsche mir, dass die Betrachter sich mit diesen
Inhalten stark konfrontieren, dass sie sich eben nicht
abschrecken lassen, dass sie sich von meinen visuellen
Erscheinungen, von meinen Formen genügend anziehen
lassen. Dann wünsche ich mir, dass die Betrachter nicht
nur erschreckt wieder einen Schritt zurück machen und
sagen: Was da alles passiert! Hoffentlich geht mich das
nie etwas an! Aus diesem Bewusstsein heraus ihr Leben
und ihr Handeln dann vielleicht ein bisschen distanzierter
betrachten, und denjenigen Leuten gegenüber, denen es
in diesen Situationen sehr schlecht geht, ein bisschen
offenherziger oder toleranter begegnen.
Dahinter steht doch eine ganz große Erwartungshaltung
an den Betrachter. Er kann schon auf Grund der Texte
nicht einfach sagen, gefällt mir oder gefällt mir nicht.
Eine Aufgabe von Kunst ist es, dem Betrachter Fragen zu
stellen. Und diese Fragen sollen dann auch wirken. Die
Frage "Gefällt es mir?" kann sich der Betrachter auch
stellen bzw. die stellt er sich nicht, die beantwortet er
sofort in dem Augenblick, in dem er ein Kunstwerk sieht.
Und die wird dann auch beantwortet. Er geht entweder
hin und schaut sich das Werk an, oder nicht. Das ist ja
die Voraussetzung, dass er die Frage überhaupt auf sich
zukommen lassen kann, dass er die Installation sieht und
im positiven Fall sagt, "die gefällt mir – sieht ja interessant
aus", und hingeht. Dann kommen die Fragen. Es ist
eigentlich ein zweistufiges Verfahren.
Dürfte er es auch dabei belassen zu sagen, "das ist
schön"?
Ja, das dürfte er schon, denn es ist ja auch schön. Da
hat er dann nur eine Ebene. Ich definiere ein gutes
Kunstwerk auch so, dass es von der Weite sehr anzieht
und beeindruckt, den Betrachter sozusagen dazu nötigt
hinzugehen, dass es in der Nähe dann aber noch mal eine
andere Betrachtungsebene bietet.
Kommen wir auf einen weiteren Werkzyklus zu sprechen,
der sich stark abhebt von den übrigen Arbeiten. Sie
haben diesen als "Standortbestimmungen" bezeichnet.
Der gesamte Zyklus ist parallel zu den Installationen in
den letzten zehn Jahren entstanden. Ich habe vorhin
davon gesprochen, dass die Kunst Fragen stellen muss/
kann, dass das eine Aufgabe der Kunst ist. Die andere
Aufgabe ist tatsächlich, dem Betrachter keine Fragen
zu stellen, sondern ihn mit Energie aufzuladen, mit
Zuversicht, die positiven Ressourcen des Betrachters zu
stärken, affirmativ zu wirken. Diese Arbeiten habe ich
wenige Tage nach dem 11.September 2001 begonnen
aus dem Schock und aus der Beobachtung heraus, dass
viele um mich herum eine Art magische Trauerarbeit
geleistet haben. Also Mittrauern, ja Mitjammern aus dem
Grund, dass einem so etwas selbst nicht passiert. Gegen
diese Betrachtung, gegen diese Art von Einfühlung habe
ich mich sehr gewehrt, denn es war dort ein willkürliches
Ereignis, das nur indirekt etwas mit meinem Leben zu tun
hatte. Ich wollte mich gegen dieses Hineinsteigern wehren
und habe begonnen, diese starke Farbigkeit zu benützen.
Das gegenstandslose Arbeiten bot mir die Möglichkeit der
Versachlichung, durch die Farbe konnte ich die eigene
Energie hoch schäumen zu lassen.
Aber auch um die Energie des Betrachters zu steigern?
Ja, denn sonst wäre es ganz belanglos, das zu tun, wenn
ich als Künstlerin etwas mache, was dann nicht auch den
Anspruch hätte, für den Betrachter interessant zu sein.
Nicht interessant, es geht um Energie.
Ja. Energie zu zeigen, um den Betrachter an dieser
Energie teilhaben zu lassen. "Standortbestimmungen"
habe ich den Zyklus deshalb genannt, weil ich in der Zeit
der Verwirrung und der Verunsicherung – man darf nicht
vergessen, dass sogar das Oktoberfest abgesagt werden
sollte, was tatsächlich etwas bedeutet in München –
wissen wollte, wo meine Energie ist. Wie viel Anteil hat
die dunkle Farbe? Wie viel Anteil hat die helle Farbe,
die stark farbkräftige, die strahlende Farbe? Ich wollte
die Kraft, mich dagegen zu wehren, mir selbst und dem
Betrachter zeigen. Ich habe nicht gedacht, dass das ein Prozess ist, der mich so lange begleiten wird. 2003 habe
ich eine lange, farbig leuchtende Bahn gearbeitet, die von
der Decke herabhängt und weit in den Raum reicht; eine
Chronik der akuten Kriegsvorbereitungen zum Irakkrieg.
Während in den USA der Krieg vorbereitet wurde, hatte
ich eine Ausstellung vorzubereiten. Bei dieser Arbeit
habe ich mich der leuchtenden Farbe bedient, Schrift
verwendet, nämlich die Schlagzeilen der Zeitung, und bin
in den Raum gegangen, habe also meine bildnerischen
Mittel zusammengeführt. Diese Gleichzeitigkeit der
Kriegsvorbereitung und der persönlichen Realität
hinzunehmen und trotzdem nicht stumm zu bleiben, war
eine große Herausforderung.
Welche Bedeutung haben die Zeichnungen denn heute
für Sie?
Es ist immer wieder ein Abtasten. Was ist jetzt los?
Tatsächlich habe ich vor wenigen Monaten wieder eine
solche Zeichnung gemacht.
Also ist eine sehr persönliche Komponente dabei?
Ja.
Als Ausgleich zu der Arbeit an den Installationen?
Ich habe mich so oft mit dem Thema beschäftigt: Die
Kunst muss Fragen stellen. Aber tatsächlich gibt es auch
in der Vergangenheit so oft Kunst, die in erster Linie keine
Fragen stellt, die affirmiert. Zustände und Umstände und
politische Bedingungen. Man kann mit den politischen
Bedingungen manchmal gar nicht einverstanden sein, und
trotzdem sind es großartige Kunstwerke. Die zweite Seite,
dass die Kunst eben Kraft einfach affirmiert und Energie
geben muss, darf man nicht zu gering schätzen. Das ist
sehr wichtig! Der Ansatz war nicht so theoretisch, ich habe
es einfach gemacht. Aus dem Gefühl heraus, sich jetzt
nicht runterziehen zu lassen, jetzt nicht einzustimmen in
dieses Wehklagen. Man muss sich in solchen Situationen
immer der eigenen Kraft, der Kraft der Kunst besinnen. So
sind die "Standortbestimmungen" entstanden.
Formal unterscheiden sich die "Standortbestimmungen"
von den Installationen völlig.
Wo sehen Sie denn das Verbindende durch Ihre
Handschrift?
Ich glaube, weil es etwas ist, was weit weg ist. Ich kenne den New Yorker Feuerwehrmann, die Geschichten, die
in New York passiert sind, nicht. Ich habe nie jemanden
kennen gelernt, der betroffen war. Damit bin ich
völlig selbstverständlich wieder ins Zweidimensionale
gegangen. Das war der erste Schritt. Zeichnerisch, von der
Handschrift her, gibt es schon wieder Affinitäten. Die Linie
hat sich ein bisschen gestreckt, aber das liegt auch sehr
stark am Werkzeug. Mit dem Messer kann man einfach
nicht gut in die Kurve gehen.
Das heißt, die Arbeiten sind mit dem Messer entstanden?
Die Arbeiten sind nicht mit einem Stift gezeichnet, sondern
ich trage das Material zuerst auf, dann mit dem Messer
wieder ab. Durch das Werkzeug hat sich die zeichnerische
Handschrift etwas geändert. Das Cuttermesser ist ein
gefährliches, aggressives Werkzeug. An die schöne,
glatte Ölpastellschicht mit so einem groben, aggressiven
Werkzeug heranzugehen und das Rot, das immer
energetisch ist, herauszuholen, das ist für mich als
Ausführende eine aufregende gestische Erlebnisebene.
Wenn ich als Katalogleser anfange bei der Abbildung
eines Zeichnungsausschnitts und über die Installationen
zu den "Standortbestimmungen" komme, frage ich
mich unwillkürlich, wie hängt das alles zusammen.
Sie haben vorhin gesagt, den Feuerwehrmann kannte
ich nicht, deshalb bin ich automatisch wieder ins
Zweidimensionale gegangen. Diejenigen Personen,
die eine Rolle spielen und Auslöser waren für die
Installationen, haben Sie auch alle selber gesprochen.
Ist das Zweidimensionale das etwas Distanziertere, die
Installation das sehr viel Involviertere, Persönlichere?
Ja. Das glaube ich ganz sicher. So sind die Installationen
zustande gekommen, weil ich involvierter war. Das
Involviertere betrifft den ganzen Menschen, dadurch
kommt das Bedürfnis nach dem Raum zustande.
Um nochmals zum Ursprung zurück zu gehen. Wie
kommen Sie denn überhaupt auf diese Themen? Die
Thematik der menschlichen Existenz, der menschlichen
Tragik? Wo hat das seinen Ursprung?
Ich glaube, dass jeder Mensch solche Erlebnisse hat.
Zwar nicht gleich in so einer dramatischen Tragweite,
aber man hat doch von frühester Jugend an Erlebnisse,
die einem die Brüchigkeit der eigenen Existenz zeigen. Ich habe mir überlegt, was stecken da für Menschen dahinter,
wenn ich das in der Zeitung gelesen habe. Zeitung war für
mich immer eine Fundgrube. Aber auch Krankenwagen,
die an mir vorbeigefahren sind, Hubschrauber, die über
mir geflogen sind, immer habe ich sie so betrachtet:
Wer liegt da drin? Was ist da passiert? Wie geht es mit
diesem Menschen weiter? Und wie geht es mit Dir weiter?
Mir ging es immer gut, ich konnte immer tatkräftig sein.
Trotzdem habe ich diese Geschichten immer an mich
heran gelassen.
Das heißt, das Werk hat eigentlich sehr stark mit Ihnen
und Ihrer eigenen Persönlichkeit zu tun? Eigentlich
mehr als mit den Geschichten dieser Menschen? Es ist
eigentlich Ausdruck ihrer eigenen Befindlichkeit, ihrer
eigenen Persönlichkeit, ihrer Gefühle, ihrer Ängste?
Ich glaube sowieso, dass man nur das ausdrücken kann,
was man wenigstens ansatzweise einmal selbst erfahren
hat. Wichtig ist, aus der eigenen Erfahrung heraus zu
abstrahieren hin zu allgemeineren Fragestellungen.
Die Frage, wie man lebt, wie man überhaupt durch das
Leben kommen kann, die muss sich ja jeder stellen,
wenn es ein erfülltes Leben sein soll. Ich bin schon
früh darauf gekommen, dass man sich vom Augenblick
inspirieren lassen muss, von der Unübersichtlichkeit nicht
abschrecken lassen darf und sich auch in Ungewissheiten
stürzen muss. Man kann das aber nur, wenn man sich auch
wieder Überblick verschaffen kann. Ob ich ein Haus baue
oder eine Reise mache: Diese beiden Voraussetzungen,
Überblick und Neugierde auf sich zufällig Entwickelndes,
braucht man immer.
Was jetzt noch gar nicht richtig zur Sprache gekommen
ist, ist Ihre Arbeit in der Psychiatrie.
Ja, in der Zwischenzeit weiß ich, dass ich nicht durch
Zufall dahin geraten bin. Zunächst habe ich mich mit
Zeichnungen, die in der Psychiatrie entstanden sind,
beschäftigt. Ich war auch mit einem Psychiater zwei
Jahre im ständigen Austausch über bildnerische Arbeit
in der Psychiatrie. Dann bot mir ein Stipendium genau
zum richtigen Zeitpunkt die Möglichkeit, in einer großen
psychiatrischen Klinik mit Patienten bildnerisch zu
arbeiten. Die Psychiatrie ist der Ort, an dem diejenigen
Leute sind, die Logos und Chaos überhaupt nicht im
Gleichgewicht halten können. Ich kann dort regelmäßig
erfahren, was das heißt, was bildnerische Arbeit dort
bewirken kann. Die bildnerische Arbeit bringe ich zu
diesen Leuten. Das ist eine wunderbare Fügung! Ja, das,
was ich durch mein Werk an bildnerischer Erfahrung habe,
das Denken über Werke, auch das handwerkliche Können,
die Hilfestellungen, was man beim Arbeiten, beim Bildnern
aushalten muss, was man auch vollzieht bei dieser Arbeit
als Prozess, wenn man all das nicht übermitteln, also
abgeben könnte an irgend jemanden, der sich dafür
interessiert oder dem es hilft, das wäre schade! Es ist
wichtig, dass der Künstler diese Erfahrungen nicht nur
dazu verwendet, tolle Werke zu schaffen, sondern es ist
auch für ein Gemeinwesen, eine Gesellschaft, wichtig,
dass diese Erfahrungen auf andere Weise wieder an die
Menschen zurückkommen.
Ist das Weitergeben bildnerischer Fähigkeiten, Impulse,
die Sie als Künstlerin erleben und die Sie in Ihrer eigenen
Arbeit umsetzen, Therapie? Oder ist es der Versuch,
mittels dieser erarbeiteten Fähigkeiten anderen beim
Bearbeiten, beim Sichtbarmachen ihrer Geschichte
behilflich zu sein?
Ja, ich gebe Impulse, und für meine Klienten entsteht
dann ein ganzer Kosmos von Möglichkeiten sich
auszudrücken. Über die Bilder kommen natürlich auch
Gespräche zu Stande, sowohl über die Form als auch
über die Bedeutung der Bilder, und schon sind wir mitten
in der therapeutischen Arbeit. Wichtig ist, dass dieses
bildnerische Arbeiten Spaß macht und trotzdem ganz
ernst genommen wird. Dieses Tun ist das Therapeutische!
Was trauen Sie der künstlerischen Bearbeitung zu?
Der traue ich alles zu!